Kraftwagen: Fertigung

Kraftwagen: Fertigung
Kraftwagen: Fertigung
 
Die Kraftfahrzeugfertigung führt in der öffentlichen Aufmerksamkeit ein Schattendasein: Das Publikum ist zwar interessiert an Autotechnik und Vergleichstests verschiedener Modelle, wie die hohen Auflagen der Automobilzeitschriften beweisen, die Probleme und Veränderungen in der Fertigung aber werden weit weniger beachtet.
 
 Vom Handwerk zur »Just-in-time-Fertigung«
 
Die industrielle Voraussetzung für individuelle Massenmotorisierung ist die massenhafte Produktion von Autos in hohen Stückzahlen auf hochkomplexen Fertigungsanlagen, wobei zahlreiche zugelieferte Komponenten verwendet werden. Die Fertigungszahlen sind enorm: Im Wolfsburger VW-Werk beispielsweise verlässt alle 20 Sekunden ein Golf das Band. Doch trotz der verbreiteten Automatisierungsproklamierung: Viele Montagearbeiten werden nach wie vor manuell geleistet.
 
Mit wenigen Ausnahmen ist die Karosserie des Standardtyps heute wie vor vierzig Jahren selbsttragend und aus großen Blechpressteilen zusammengeschweißt. Geschah dies bis vor wenigen Jahren noch mühsam von Hand im Gruppenakkord, durch Punktschweißer, die pro Karosserie etwa drei- bis fünftausend Schweißpunkte setzen mussten, so verrichten diese Arbeit heute Schweißroboter präziser und schneller. Ein Typ schwerer und gesundheitlich problematischer Arbeit ist nahezu verschwunden — die Arbeitsplätze allerdings auch.
 
Konstruktive und fertigungstechnische Maßnahmen reduzieren den Bauaufwand für einzelne Fahrzeuge. Wird ein deutscher Mittelklassewagen heute in durchschnittlich 30 Stunden gebaut, so soll diese Zeit in Zukunft um ein Drittel verringert werden; der fast nur aus zugelieferten Modulen bestehende Kleinstwagen Smart ist sogar schon nach acht Stunden montiert. Fertigungsstraßen werden ausnahmslos — sogar bei Herstellern, die relativ kleine Stückzahlen herstellen — durch komplexe Datenverarbeitungsanlagen gesteuert, die es sogar gestatten, verschiedene Fahrzeugtypen am selben Band zu bauen. Die benötigten Materialien werden online bestellt und pünktlich direkt an die Produktionsstelle gebracht. In der Weiterentwicklung bezieht man auch die Zulieferer in diese Fertigungsweise mit ein: Das Teilelager der Fabrik entfällt, der Zulieferer hat dafür zu sorgen, dass die Teile rechtzeitig (»just in time«) im Werk ankommen. Auf diese Weise lassen sich zwar die Kosten erheblich reduzieren, gleichzeitig wird die Fertigung aber auch verwundbar. Wenn ein LKW mit dringend benötigten Teilen etwa wegen eines Unfalls sein Ziel nicht rechtzeitig erreicht, so kann im ungünstigen Fall die Produktion eines halben Arbeitstages ausfallen.
 
Auch die Werkstoffe der Kfz-Fertigung haben sich geändert. Zwar besteht noch immer der überwiegende Teil eines Fahrzeugs aus Stahlblechen, der Anteil von Kunststoffen verschiedenster Art ist aber generell stark erhöht worden und macht mitunter schon 20 Prozent des Fahrzeuggewichts aus. Um Gewicht zu sparen, werden gelegentlich Leichtmetalle wie Aluminium oder Magnesium verwendet; aber nur ein Hersteller, Audi, fertigt die gesamte Karosserie seines Oberklassenmodells aus Aluminium. Faserverbundmaterialien — heute schon im Rennsport weit verbreitet — werden im Karosserie- und Fahrgestellbau in den nächsten Jahren vermehrt verwendet werden. Ähnliches gilt für Keramikwerkstoffe, die bereits heute in thermisch hoch belasteten Motoren als Ventile oder Ventilsitze verwendet werden.
 
 Verbundfertigung und »Label-Engineering«
 
Schon seit vielen Jahren steht die Automobilindustrie von zwei Seiten unter Druck: Die Autos werden immer komplexer und aufwendiger in der Fertigung, gleichzeitig sind jedoch angesichts einer globalen Überkapazität von über 40 Prozent die Preise nicht beliebig zu steigern, um höhere Kosten aufzufangen.
 
Die Unternehmen verfolgen verschiedene Strategien, um die Kosten zu senken: Rationalisierungen und Kosteneinsparungen beim Einkauf, Umorganisation der Arbeit und Kooperation, eventuell sogar Fusion.
 
Das Drücken der Einkaufspreise verlagert den Kostendruck auf die Zulieferer. Mittlerweile rückt man hiervon wieder ab, um nicht in die Gefahr zu geraten, mit dem Zulieferer auch dessen wertvolles Know-how zu verlieren. Auch Qualitätsverluste bei zu billigem Einkauf brachten diese Strategie in Verruf. Heute werden an Zulieferer die Entwicklung und Bereitstellung ganzer Produktgruppen — wie etwa Sitze — abgegeben. Die Zulieferer werden zu »Systempartnern« der Autohersteller.
 
Lohnkosten lassen sich am einfachsten durch Automatisierung und Entlassungen senken. Wo dies nicht möglich oder nicht gewollt ist, kann Umorganisation der Arbeit die Lohnkosten verringern und eine schnelle Reaktion auf wechselnde Nachfrage ermöglichen. So führte zum Beispiel Volkswagen für seine 100 000 Beschäftigten 1994 ein »flexibles Arbeitszeitmodell« ein. Es geht von einer 28,8-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich aus; bei guter Auftragslage anfallende Überstunden (»Mehrarbeit«) werden nicht vergütet, sondern in Freizeit ausgeglichen.
 
Um die Kosten zu senken, kommt es häufig zu Produktionsverlagerungen ins Ausland, wo die Lohnkosten niedriger sind. Bei der Ausschreibung eines Produktionsauftrags innerhalb eines Konzerns werden dabei zunehmend mehrere Standorte gegeneinander ausgespielt, um so Zugeständnisse der Belegschaft zu erreichen. Die Produktionsverlagerung ist besonders interessant bei Komponenten wie Motoren oder Getrieben sowie bei Kleinwagen, wo die Gewinnmargen niedriger sind als bei Oberklassewagen; beispielsweise betreibt Audi ein Motorenwerk im ungarischen Györ, wird der Opel Corsa im spanischen Saragossa oder der Kleinstwagen »Smart« im lothringischen Hambach montiert. Da auch die Zulieferer ähnliche Strategien verfolgen, bestehen heutige Autos aus Komponenten, die in Dutzend verschiedenen Ländern hergestellt worden sind. Ein Hersteller etikettiert seine Wagen entsprechend nicht mehr »made in Germany«, sondern »made by Mercedes« — nach der Konzernumbenennung ist das allerdings auch schon wieder Vergangenheit.
 
Der langfristig erfolgversprechendste Weg der Kostensenkung ist die Kooperation. »Baukastenautos«, bei denen identische Motoren oder Fahrwerkskomponenten eingebaut werden, sind heute in allen Konzernen üblich, um rationell große Stückzahlen produzieren zu können, aber auch um parallele Entwicklungsarbeiten und parallele Produktion von Komponenten und Fahrzeugen innerhalb eines Konzerns zu vermeiden. In der Autoindustrie spricht man von »Plattformen«, einheitlichen Bodengruppen und Fahrwerkseinheiten, die mit den verschiedensten Motoren, aber auch mit anderen »Modulen« von Achsen, Lenkungen und Getrieben komplettiert werden. Die daraus entstehenden Fahrzeuge können durchaus unterschiedlich aussehen, da auf den Plattformen selbst sehr verschiedene Karosserievarianten für verschiedene Autotypen aufgebaut werden können.
 
Es gibt ein unterschiedliches Umgehen mit solchen gemeinsamen Plattformen: Zwei kooperierende, aber unabhängige Unternehmen können unterschiedliche Modelle mit einer gemeinsamen Plattform fertigen; so bauen beispielsweise der schwedische Hersteller Volvo und der japanische Hersteller Mitsubishi in einem gemeinsamen Werk auf einem Band ihre jeweiligen Mittelklassefahrzeuge. Innerhalb eines Konzerns wird eine Plattform in der Regel für verschiedene Marken verwendet. Das einfachste Muster der »Plattformisierung« ist der Bau von Design- und Ausstattungsvarianten ansonsten weitgehend gleicher Fahrzeuge; in der extremsten Form spricht man vom »Label-Engineering«: Hier unterscheiden sich Fahrzeugtypen hauptsächlich durch das Firmenemblem. So bieten beispielsweise Fiat, Lancia, Peugeot und Citroën praktisch identische Großraumlimousinen an.
 
Gemeinsame Motorenentwicklungen gab es schon früher; heute teilen sich oft Diesel- und Benzinmotoren denselben Motorblock. Schon bei den ersten Überlegungen zur Entwicklung eines Motors wird auf eine möglichst einfache, roboterfertigungsgerechte Konstruktion Wert gelegt. Prototypisch dafür ist die kleine FIRE-Maschine (Fully Integrated Robotized Engine, voll integrierter robotergerechter Motor) des Fiat-Konzerns, die vollautomatisiert gebaut werden kann. Hier wird deutlich, dass bei der Entwicklung neuer Triebwerke zunehmend die Fertigungsingenieure mitzusprechen haben.
 
Die Fertigungstiefe — der Anteil von Komponenten eines Autos, der vom Hersteller selbst gefertigt wird — geht immer weiter zurück. Hatte Henry Ford in den 1920er-Jahren noch das Ziel völliger Autarkie — die Fordwerke betrieben sogar eigene Kohlegruben, Erzminen und Stahlwerke —, werden bei modernen Fahrzeugen bis zu 75 Prozent aller Teile von den »Systempartnern« zugekauft. Inzwischen werden schon komplette Module wie Armaturentafeln, Sitze, Einspritzanlagen oder Schiebedächer von Zulieferern (in Kooperation mit den Autoherstellern) entwickelt, produziert und angeliefert. Speziell in Verbindung mit dem Just-in-time-Verfahren und dem Wegfall der Teilelager — was allerdings die beschriebenen Gefahren birgt — lassen sich auf diese Weise erhebliche Kostensenkungen erzielen.
 
Doch allen Rationalisierungsmaßnahmen und Kostensenkungen zum Trotz: Der Druck auf die Autoindustrie bleibt. Immer mehr Fahrzeuganbieter mit immer besseren, äußerst rationell gefertigten Autos konkurrieren auf Märkten, deren Wachstumsraten mittelfristig zurückgehen. Um potenzielle Massenmärkte in den industriellen Schwellenländern wird von den Autokonzernen hart gekämpft. Druck kommt auch von umweltbewussten Verbrauchern und Verbänden. Auch wenn das Industrieprodukt Auto noch für etliche Jahre eine gute Einkommensquelle bleiben wird, denken Autokonzerne vorsichtig über ihre Zukunft jenseits des Autos nach. Wohin die Überlegungen gehen, zeigen Slogans wie »Wir verkaufen Mobilität«. Prognosen zur Zukunft der Autoindustrie gehen davon aus, dass die Produktivität — und auch die Qualität der produzierten Fahrzeuge — weiter zunehmen wird; die Zahl der Arbeitsplätze aber wird, zum Teil dramatisch, zurückgehen.
 
Dr. Kurt Möser
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Kraftwagen: Infrastruktur
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Kraftwagen: Hochtechnologie im Verborgenen
 
 
Automobilmontage in Europa, herausgegeben von Ekkehart Frieling. Frankfurt am Main u. a. 1997.
 Schreiber, Jürgen: Auto-Praxis. .. von A- Z, bearbeitet von Birgit Kollbach und Heinrich Sonntag. Wiesbaden 141997.
 
Vernetzte Produktion. Automobilzulieferer zwischen Kontrolle und Autonomie. Mit Beiträgen zu Entwicklungen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan und Schweden, herausgegeben von Manfred Deiß und Volker Döhl. Frankfurt am Main u. a. 1992.

Universal-Lexikon. 2012.

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